Vom Grab der Giganten

Jens Oliver Meiert
5 min readJan 26, 2019

Der Hölle zu nah, um dem Himmel fern zu sein.

– Grabinschrift am Grab der Giganten.

Ich bin ein Schriftsteller. Geplant habe ich das nicht. Das merkt man manchmal auch. Und dennoch schreibe und veröffentliche ich seit 15 Jahren und habe in dieser Zeit, je nach Definition, 6–11 Bücher verfasst.

Vor ein paar Wochen fand ich eine alte Archivdatei. Diese beinhaltete ein paar Scans, die ich vor 10 Jahren angefertigt hatte, und diese Scans waren von ein paar Seiten, die ich vor über 20 Jahren, in den Neunzigern, beschrieben hatte. Jahre vor der Zeit, bevor ich zu dem Schriftsteller wurde, der ich ursprünglich nie das Ziel besaß, zu werden.

Die Seiten, 12 Zettel, einige hier angehängt, schienen zusammenhanglos, scheinen zusammenhanglos, aber irgendwie bilden sie das Gerüst einer Geschichte. Eine Geschichte aus der Ferne, geographisch, vielleicht auch zeitlich. Ich erinnere mich noch nicht an diese Geschichte. Aber ich will sie hier skizzieren. Angefangen, eingangs, auf Seite 5: vom Grab der Giganten. Was hier los ist, ich habe keine Ahnung.

Sie sprach:

Und wenn du der Letzte bist, der in diesem Raume das Licht entzündet, so erinnere dich daran, du könntest der Erste sein, denn du weißt es nicht.

Doch in der Unendlichkeit bist du verloren, und so wird es auch in diesem Raume das Licht nie gegeben haben.

Erinnere dich, du wirst sehen, wie klein du bist, erinnere dich, und erlösche.

– Eine der vier Prophetinnen.

Tiefe Trauer zerfurchte sein Antlitz, doch wirkte er überzeugend, als er wieder anhob:

Je ferner es dir erscheint, desto näher rückt es doch, und je näher es dir entrückt, desto weiter stehst du von ihm. Und so siehe, daß du es selber bestimmst, und habe acht, daß es dir nicht entgleitet. Empfinde keine Furcht und habe Vertrauen, denn sie helfen dir. Deine Gegner spüren es. Ich spüre deine Verunsicherung, doch weiter kann ich dir nicht helfen.

– Der Torwächter der kleinen Stadt.

Die Antwort war:

Was dir bevorsteht, Bruder, ist dein allmähliches Erwachen. Und wenn du wach bist, wirst du feststellen, daß du aus dem Traum nicht mehr aufwachen kannst. Und du bist gefangen. Doch resigniere nicht, denn darauf kommt es nicht an.

Und sie schlief wieder ein.

– Eine der vier Prophetinnen.

Sie begann zu wanken:

Wisse, es gibt solche, denen es zu eigen ist, Klarheit und Licht zu erschaffen, auch wenn sie in der Ferne sind. Und siehe, es gibt solche, die vernebeln dir die Wahrnehmung und erzeugen Licht und Schatten immerdar.

Aber habe keine Furcht, denn die ewige Dunkelheit gibt es nirgends, denn das Sein verbietet sie. So erhebe dich und schau, blicke in die Tiefe und erkenne, wie sich alles vermischt. Nehme den hellsten Punkt an dich und beobachte die Uneinigkeit.

Es ist eins.

Ihre Stimme erstarb.

– Überlieferung vom Tod der Königin.

Die eine, die er traf, war so niedlich und zart, von gar anmutiger Gestalt. Ihre Stimme erhellte die Dunkelheit und ihr Wesen verzauberte. Das Haar duftend, der Verstand leicht und klar.

Oh welch Punkt in jener Zeit.

– Eine der sieben Überlegungen.

Spiel dir deine Welt im Kopf durch – wie siehst du sie, willst du sie haben?

Wie willst du sie, so sieh sie dir an, und sieh und schau genau hin.

Was ist deine Welt?

Sie ist anders als die anderen der einen, aber auch als die einen der anderen Menschen.

Sie ist.

Und nun wähle –

gut oder schlecht, richtig oder falsch. Doch höre her:

Denn nur die nicht sehen wollen, sehen, und die es nicht vermögen, den Geist zu verschließen und [dem?] ist, sehen nichts außer dem Nichts.

In der Unendlichkeit, mein Freund, sehen wir nichts.

Wir sind nichts.

– Der Mann unter den Linden.

Worum es höchstens noch gehen würde – sie täte es nicht verstehen.

Und er fuhrt fort, erhobenen Hauptes:

So gib dir keine Blöße, und ziehe Stärke aus deiner Schwäche.

Erkenne, daß du lernen mußt, um stark zu werden und deine Kraft richtig anzuwenden.

Doch das wird nie viel sein, in einem Spiel, in dem es keinen Gewinn und eigentlich auch keinen Verlust gibt. Warum Energie verschwenden?

Spiele dir dein Leben!

– Der Mann unter den Linden.

Oh würde ich über die Liebe schreiben – ich könnte mich freuen oder jubilieren, wehen oder klagen, etliche Seiten füllen oder auch nur eins sagen:

Ich mag nicht über die Liebe schreiben.

Er senkte den Kopf.

Und der Hass mag ein allzu hässlicher Pol sein, um von ihm angezogen zu werden. So mag es dir auch bei der Liebe erscheinen.

Lasse dir gesagt: Beides währt selten immerdar.

– Der Jüngste in der Bibliothek.

Ohnmächtig zu wissen, wo er anfangen sollte oder enden. Ohnmächtig vor Schmerz. Ein wankender Gigant.

So lautete seine erste Schilderung, und anfangs schien es, als wolle er nicht fortfahren, doch schließlich.

Dieser also entschwand eines Tages seines angestammten Sitzes und erfuhr, daß Toleranz und Intoleranz nur geringfügig variierten.

Toleranz machte den ansonsten plötzlichen Tod nur schleichend.

Er fiel, der Riese.

– Zusammenfassung der Erzählung vom ersten Abend beim Archivar der Mythen.

Einer der vier schoß einen Bogen ab, aber ohne zu treffen. Wie, so hob er an, könnte das, was getan wird, etwas beigemessen werden, was ohne Zweifel zu einer der Tugenden gehört?

Zu denken ohne Furcht, ohne Blässe, und ohne die Empfindung, Leiden zu ertragen?

Drei nickten, doch stand Unverständnis in ihren Gesichtern.

Ihr werdet sehen und verstehen, getroffen habe ich ihn schwer, nur sein Wanken könnt ihr nicht wahrnehmen.

Lauschet ein wenig, in euch hinein, und erkennet.

– Vier Ritter an der Schranke zu Nur.

In einem Tal versperrte einst eine Statue den Weg, die in ihrer Masse und Gestalt unüberwindlich war.

Sie zeigte das Antlitz des Bezwingers, und es erschien allen eine Herausforderung, sich zu messen.

Doch nur einem gelang es, das Hindernis zu überwinden: Dem Kind des Mitoes, denn es wusste, warum es die Status des Bezwingers hieß.

Es kehrte um und verstand die Pein.

– Die Legende des Kindes.

Keine Ahnung.

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Jens Oliver Meiert

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